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Lange habe sie überlegt, ob sie das machen soll, erzählt mir die Alltagsbegleiterin von Uschi *, einer Dame mit einer Alzheimererkrankung, ob sie das machen soll, sie einfach mit ins Kino nehmen zum Angebot des „Metropolitan goes cinema“, also den Übertragungen von Opernaufführungen im Kino, auf großer Leinwand. Ganz aufgeregt wirkt sie, die Alltagsbegleiterin, tief bewegt offensichtlich von diesem Ereignis und dem, was im Kino geschehen ist. Sie habe lange überlegt, ob sie das machen soll, denn eine Oper, die sei doch so lang, was, wenn Uschi aufsteht und im Kino herumläuft, im Dunkeln, wenn sie dort stürzt oder Gäste ablenkt oder durch ihr ungewöhnliches Verhalten verärgert.

Einfach mal raus

Die Alltagsbegleiterin hat sich für den Besuch entschieden – und der Abend verlief ganz anders, als es die „Ängste“ zuvor hatten ihr weiß machen wollen. Uschi saß über den gesamten Zeitraum auf ihrem Platz. Fasziniert von den Bildern und der Musik tauchte Uschi ab in das Erleben der Geschichte auf der Leinwand. Dieser uralten Geschichte voll von unser aller Lebensthemen wie Liebe, Eifersucht, Freud und Leid, die sich alle im Gesichtsausdruck von Uschi spiegelten. Ihr Gesicht sprach Bände.

In meinem Ursprungsberuf als Musiktherapeutin hab ich mich oft gefragt, woher es kommt, dass in vielen ästhetisch-kulturellen Momenten mit Menschen mit Demenz eine solche Tiefe zum Tragen kommt und im Außen gleichzeitig das kulturelle Angebot, in meinem Fall die Musik häufig so belächelt wird, ja, dem Ganzen schon fast Entwertung entgegen schlägt oder Kultur als belanglos angesehen wird. Kunst und Kultur sind alles andere als belanglos – das gilt für Menschen mit und ohne Demenz.

Ein Kino- oder Theaterbesuch können lang verschollene Erinnerungen wach rufen. Bildquelle: © Myke Simon / Unsplash.com
Ein Kino- oder Theaterbesuch können lang verschollene Erinnerungen wach rufen. Bildquelle: © Myke Simon / Unsplash.com

Kultur und Demenz

In unseren vertrauten Kategorien erspüren-verstehen-handeln möchte ich Ihnen wieder ein paar Gedankenimpulse zur Bedeutsamkeit von Kultur für Menschen mit und ohne Demenz ans Herz legen, die zum Weiterdenken und -fühlen einladen sollen.

Erspüren:

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„Kunst und Kultur sind nicht die sympathische Nische unserer Gesellschaft, sondern das Eigentliche, das sie zusammenhält.“ sagt Dr. Norbert Lambert (Präsident des Deutschen Bundestages von Oktober 2005 bis Oktober 2017).

Kunst und Kultur sind (und besonders für Menschen mit Demenz) kein „Nice to have“, sie sind Bestandteil und Grundlage des Lebens. Nahezu unbemerkt leisten Kunst und Kultur wie im Fall von Uschi und ihrer Begleitung einen Beitrag zur Unterstützung von Lebensqualität für Situationen des Alltags, die mit Kunst und Kultur an sich überhaupt nichts zu tun haben. Ob sich Uschi im Nachgang noch an den Kinobesuch erinnern kann, ist bedeutungslos. Sie wird sich jedoch immer daran erinnern, wie sie sich in diesem einen Augenblick gefühlt hat – und ihrer Begleitung geht es ebenso. Das, was im Kino geschehen ist, hat intensive Auswirkungen auf das Miteinander im Alltag, auf die Art und Weise wie die Alltagsbegleiterin Uschi wahrnimmt – fernab der Demenzerkrankung.

Kunst als Ausdruck vom Mensch-Sein

Kunst wieder als das zu erfassen, was sie ist, nämlich der Ausdruck vom Mensch-Sein, dazu lädt der Demenzforscher und bildende Künstler Oliver Schultz in seinem Buch „Blickwechsel – die Kunst der Demenz“ ein. Schultz lässt hier Menschen mit Demenz durch ihre Bilder selbst sprechen und ermöglich uns so neue Wege im Verstehenszugang:

https://editionfaust.de/produkt/blickwechsel-die-kunst-der-demenz/

„Künstlerisches Handeln bietet die Freiheit, dass es keiner Sinnhaftigkeit folgen muss. Es gibt kein richtig oder falsch“ sagt der Berliner Kunsttherapeut Michael Ganss.

Eine Angehörige hat es einmal so formuliert: „Wenn wir ins Museum gehen, verschwindet die Demenz aus unserem Leben“.

Verstehen:

Bewegende ästhetische Erfahrungen, die beim Betrachten eines Films oder einer Ausstellung im Museum gemacht werden, sorgen für eine Vernetzung der unterschiedlichsten Hirnareale und für ein wahres Neuronenfeuer. Unser Deutungs- und Ausdrucksvermögen wird aktiviert, der Zugang zu unserer Gefühlswelt ist offen. Dass Kunst und Kultur ein Schutz vor Depressionen sein können, zeigt auch diese Studie.

Eine großangelegte Studie der Universität Frankfurt beschäftigt sich mit künstlerischen Angeboten für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen im Museum: Von stärkerem Zugewinn an Wohlbefinden, neuen Erfahrungen durch das Entdecken von Kreativität, von emotionaler Entlastung, von Freude, Entspannung, Ausdauer sowohl bei Menschen mit Demenz als auch bei den Begleiter ist die Rede.

Handeln:

Wagen Sie sich hinaus ins Leben. Suchen Sie sich kulturelle Angebote, mit denen Sie sich wohl fühlen und haben Sie den Mut, auch Neues zu probieren, ohne an bisher vermeintlich biographisch Bedeutsamen festzuhalten. Ihr Mann hat nie ein Museum besucht? Ihre Mutter hat niemals einen Pinselstrich gemacht? Das heißt nicht, dass es für Ihren Mann oder Ihre Mutter nicht genau jetzt eine Bedeutung haben kann. Sie haben es in der Hand, Räume zu öffnen und für gesellschaftliche Teilhabe zu sorgen. Sie sind der wertvolle Schatz eines „Ersatz-Ich“, eines Gegenübers, das Möglichkeiten der gemeinsamen Begegnung schaffen kann – fernab der Demenz.

Seien Sie mutig und kaufen Sie einfach mal ein Ticket für ein Konzert, einen Kinobesuch oder einen Museumsbesuch. Es wird ganz bestimmt eine tolle Erfahrung! Bildquelle: © Igor Ovsyannykov / Pixabay
Seien Sie mutig und kaufen Sie einfach mal ein Ticket für ein Konzert, einen Kinobesuch oder einen Museumsbesuch. Es wird ganz bestimmt eine tolle Erfahrung! Bildquelle: © Igor Ovsyannykov / Pixabay

Kultur gibt es überall

Im süddeutschen Raum bietet Hans-Robert Schlecht mit seinen Projekten „Rosenresli“ seit über zehn Jahren verlässliche und ganz unterschiedliche Begleitung von Menschen mit Demenz und ihren Zugehörigen zu Kulturevents an. Er greift auf lange Erfahrung und ein großes Netz an Kulturpartnern zurück. Mehr unter www.rosen-resli.net.

Seit 2017 bereichert das Projekt „Kulturistenhochzwei“ das Miteinander und Zusammenleben in Hamburg – auch und vor allem für bedürftige Senioren. Kulturpartner spenden dort jeweils 2 Tickets für einen Kino,- Theater-, Museums-, oder Eventbesuch. Diese besucht die ältere Person dann gemeinsam mit einem Schüler oder einer Schülerin der Oberstufe. Alle Schülerinnen und Schüler sind intensiv mit dem Thema Demenz vertraut und durchlaufen im Vorfeld ihrer Begleitung eine Schulung. Ein generationenübergreifendes Projekt auf Augenhöhe! Lesen Sie mehr unter www.kulturisten-hoch2.de

In Kunst und Kultur gibt es keinen Mangel. Hier herrscht pure Fülle. Vergessen Sie die Demenz. Schöpfen Sie aus dem Vollen und lassen Sie sich in Ihrer Stadt zu den verschiedenen Angeboten beraten.

Sie haben Fragen und/oder möchten Rückmeldung geben? Schreiben Sie mir. Ich freue mich auf Ihre Zeilen. Sie möchten mehr erfahren? Das können Sie bspw. in meinen Seminaren. Besuchen Sie mich auf meiner Website.

Herzlichst, Ihre

(* Name von der Redaktion geändert)

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