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Derzeit leben in Deutschland ca. 1,8 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die älter als 65 Jahre sind (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2016). Davon 108.000 von ihnen – Schätzungen zufolge – mit einer Demenzerkrankung.

Als ihr Vater vor knapp drei Jahren an Alzheimer erkrankte, sah sich die türkisch-stämmige Medizinökonomin Mefküre Ülker vielen Fragen und einem „riesigen Berg Bürokratie“ ausgesetzt. Und das trotz ihrer medizinischen Fachkenntnisse und der Tatsache, dass sie fließend deutsch spricht. Kurzer Hand gründete sie mit UnterstützerInnen ihrer Community einen eigenen Verein in Köln. Dies vor allem, um das Thema Demenz stärker ins Bewusstsein ihrer türkisch-stämmigen Mitbürger zu bringen und Hemmschwellen rund um die Diagnostik und Begleitung abzubauen.

Für die vorerst letzte Ausgabe der Demenz-Fibel habe ich ein Gespräch mit Mefküre Ülker vom Türkischen Alzheimerverein e.V. geführt. In unseren vertrauten Kategorien erspüren-verstehen-handeln möchte ich Ihnen ein paar Gedankenimpulse ihres Erfahrungsschatzes mit auf den Weg geben.

Mefküre Ülker engagiert sich mit vollem Einsatz für die Aufklärung im Bereich Demenz. Bildquelle: Mefküre Ülker
Mefküre Ülker engagiert sich mit vollem Einsatz für die Aufklärung im Bereich Demenz. Bildquelle: Mefküre Ülker

Erspüren:

Die emotional-psychische Verarbeitung einer Erkrankung, das Bereitstellen von Bewältigungsstrategien und das Verständnis für eine Erkrankung hat immer auch kulturell und/oder spirituell bedingte Aspekte. So können die Symptome einer Demenz, besonders die, die mit einer Persönlichkeitsveränderung einher gehen, beim Betroffenen selbst und bei den Angehörigen Scham und großes Unbehagen auslösen. Werden im kulturellen Verständnis Krankheit und die Symptome einer Demenz als „unabänderliches Schicksal“ oder gar als „Strafe Gottes“ gewertet, sind die Hürden hoch, mit der eigenen Familie und dem Freundeskreis im Außen in Kontakt zu bleiben.

Doppelte soziale Isolation droht angesichts der Tatsache, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufig nur noch eingeschränkt auf die einst erlernte deutsche Sprache zurückgreifen können, wenn sie von einer Demenz betroffen sind. Das hat auch Mefküre mit ihrem Vater erlebt. Ein Betreuungsplatz für ihn konnte gefunden werden, doch er verstand weder, was die Menschen dort von ihm wollten, noch konnte er sich ausdrücken oder mit den dort angebotenen kulturellen Ritualen im Tagesablauf vertraut werden – die Angebote sind ausschließlich auf deutsch-stämmige Menschen mit Demenz ausgerichtet. 

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Verstehen:

Die gängige Diagnostik in Deutschland rund um eine korrekte Differenzialdiagnose gestaltet sich bereits für Muttersprachler schwierig. Demenz in all ihren unterschiedlichen Formen ist eine Ausschlussdiagnose. Wie ich es bereits in der Demenz-Fibel-Ausgabe zum Thema „Demenz, was ist das?“ ausgeführt habe, ist „Demenz“ KEINE eigenständige Krankheit. Sie beschreibt einen Zustand, der durch unterschiedlichste Ursachen entstehen kann.

Viele der üblichen Testverfahren zur Diagnosenstellung sind für Menschen mit Migrationshintergrund ungeeignet. Die Tests sind für deutsche Personen entwickelt worden und sind stark von sprachlichen Fähigkeiten und Kenntnissen der deutschen Kultur abhängig. Kann eine Person nur wenig Deutsch verstehen, sprechen oder lesen, sind verfälschte Testergebnisse die Folge (das gilt sicher auch für viele Muttersprachler!). Auch das Dolmetschen durch Familienangehörige bietet in diesem Zusammenhang keine verlässliche Unterstützung. Das vor allem weil Zugehörige verständlicherweise mit ihrer eigenen emotionalen Wahrnehmung der Situation unter einer hohen Belastung stehen. Ein weiterer Faktor, der zu Fehlinterpretationen der Tests führen kann.

Mefküre Ülker versucht Brücken zu bauen und damit mehr Verständnis für die Diagnose Demenz zu schaffen. Bildquelle: © Rostyslav Savchyn / Unsplash.com
Mefküre Ülker versucht Brücken zu bauen und damit mehr Verständnis für die Diagnose Demenz zu schaffen. Bildquelle: © Rostyslav Savchyn / Unsplash.com

Handeln:

Seit 2017 hat Mefküre Ülker mit dem Verein Türkische Alzheimergesellschaft e.V. für Menschen mit Migrationshintergrund für die Generation der Gastarbeiter von einst viel geleistet. Kooperationen mit verschiedenen Krankenkassen, Zusammenarbeit und Austausch mit der türkischen Botschaft, dem Gesundheits-, Familien-, Arbeits-, und Bildungsministerium bilden die Basis für Projekte des Miteinanders hier in Deutschland. So vermittelt bspw. die Bundesagentur für Arbeit türkisch-stämmige Personen an den Verein, der eine Ausbildung zum Demenzbegleiter und Demenzberater in türkischen Familien ermöglicht. Die Abschlussprüfung zu dieser Ausbildung wird durch die TÜV-Akademie Rheinland zertifiziert. 223 Menschen konnten bereits ausgebildet werden.

Die Öffentlichkeitsarbeit und das Miteinander liegt dem noch jungen Verein rund um Mefküre am Herzen. Vor allem auch der Austausch mit der Alzheimer Gesellschaft Deutschland. Einmal im Monat finden Informationsveranstaltungen statt. Ein Alzheimertelefon für türkische stämmige Menschen mit Demenz ist ebenfalls eingerichtet und täglich am Vormittag besetzt. Mehr zu konkreter Unterstützung des türkischen Alzheimervereins, der im Januar 2020 auch eine Außenstelle in Dortmund eröffnet, können Sie unter https://www.tuerk-alzheimerverein.de/ erfahren.

Ich finde, gerade in einer Zeit, in denen gesellschaftliches Schweigen zu bedeutsamen Themen auf vielen Ebenen „in“ zu sein scheint, braucht es Menschen, die – fernab von Herkunft und Demenzdiagnose – Zeichen setzen und Sprachlosigkeit überwinden. Kommen wir ins Handeln. Kommunizieren wir statt nur zu reden. Begegnen wir uns mit Respekt auf Augenhöhe.

Sie haben Fragen und/oder möchten Rückmeldung geben? Schreiben Sie mir. Ich freue mich auf Ihre Zeilen. Sie möchten mehr erfahren? Das können Sie bspw. in meinen Seminaren oder besuchen Sie mich auf meiner Website.

Herzlichst, Ihre

 

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